Vision - Eine Geschichte zum Fest

Vision

Ich sehe in die Zukunft! Nicht ganz so weit weg, nein! Ich überschlage mal so eben 20 Jahre.
Schwester Dorthe ist dann 65. Ihre Füße tragen sie noch, ja. Ihr Rücken? Ein wenig krumm, gut, das ist halt so nach 40 Jahren Arbeit im Krankenhaus. Eine Kur oder eine ausgedehnte Behandlung mit Krankschreiben, Massagen und Krankengymnastik? Das ist nicht mehr so leicht möglich. Das gab es im letzten Jahrhundert. Krank sein? Einfach zu teuer für die Arbeitgeber, nicht nur im Gesundheitswesen, nein, das ist überall so. Krank ... Das heißt: Gnadenlos entlassen werden – nicht sofort, erst mal ist da die heimliche Abschussliste. Heimlich, man erkennt sie nur an Äußerungen wie: „Ach, das geht nicht mehr? Na ja, du musst ja nicht. Draußen warten 100 Arbeitslose, die deinen Job auch für weniger Geld machen.“ Also bleibt man lieber „gesund“!
Okay, Dorthe kommt mit ihrem Geld nicht hin und nicht her, deshalb hat sie noch einen Nebenjob. Sie fährt Hybridtaxi. Nur 10 Stunden in der Woche, immerhin. Ihre Kinder und Enkelkinder haben leider noch keinen Job, sie warten darauf, dass jemand völlig entkräftet tot umfällt, sprich, dass ein Ausbildungs- oder Arbeitsplatz frei wird. In der Nachbarschaft hatte unlängst jemand das Glück, einen Beruf erlernen zu dürfen, obwohl er erst 31 Jahre alt war. Nun denkst du, dann könnten Dorthes Kinder doch Taxi fahren? Ja, das wäre nicht schlecht. Doch: Woher soll das Geld für den Führerschein kommen?
Eigentlich ist sie heute zu müde, denn sie hatte Nachtwache. Gut, sie hat 4 Stunden geschlafen und sie braucht halt dieses Extrageld. Die Einheitsrente ihres Mannes reicht gerade für die Lebensmittel, die sie alle brauchen. Man möchte ja auch schließlich wohnen und versichert sein und heizen!
Also los. Rein in den Hybriden! Die Taxigesellschaft hat sich ans Energiesparprogramm angepasst, es gibt in dieser Firma nur noch Sammeltaxis, die, wie damals die Busse, feste Haltestellen anfahren. Einzelne Passagiere gibt es kaum noch, wer kann sich so etwas noch leisten? Dorthe lässt ihre ersten drei Kunden am Bahnhof einsteigen. Berufspendler, gut gestellte Leute mit einem echten Job.
Hoppla, den hatte sie gar nicht gesehen! Da ist ihr doch tatsächlich irgend so ein Arbeitsloser ins Auto gelaufen. Wie gut, dass sie Krankenschwester ist.
Der Mann blutet aus einer Wunde am Kopf, einer seiner Arme liegt irgendwie bizarr verdreht neben ihm. „Bitte nicht ins Krankenhaus, ich hab´ kein Geld!“, wimmert der Verletzte. Ihm ist schon klar, dass er den Unfall verursacht hat. Und er ist nicht krankenversichert. Wovon auch?
Also packt Dorthe ihn, ihrer sozialen Ader folgend, ins Taxi, um ihn zum Social Care zu fahren. Ihr Weg führt direkt daran vorbei. Die anderen Fahrgäste murren: „Lass ihn doch laufen, ist doch nur ein Arbeitsloser. Die Straßen sind voll davon.“
Doch Dorthe kann nicht anders. Auch auf die Gefahr hin, dass sie einen gewaltigen Rüffel bekommt – der Mann tut ihr leid. Soll der reiche Pendler doch weiter nörgeln, ihm würde bei so einer Gelegenheit die Krankenkasse helfen, er wäre sicher sofort ins Krankenhaus gekommen. Wie gut, dass wenigstens für die Armen das Social Care da ist, denkt sie. Dort gibt es wenigstens eine notdürftige Behandlung und ein Schmerzmittel ...
Dorthe ist froh, als dieser Tag um 22 Uhr endlich vorbei ist. Schlafen ... Ihr Mann hält für sie eine heiße Brühe und etwas Brot bereit. Das ist wenigstens etwas, zu mehr reicht es nicht.

Am nächsten Abend muss Dorthe wieder zur Nachtwache. Müde schlurft sie über die Station, schaut auf die Patiententafel: 44 Menschen, davon 5 Frischoperierte, 3 Sterbende, 7 verwirrte und 10 Schmerzpatienten. Der Rest steht kurz vor der Entlassung oder wartet auf eine Operation. Diese Menschen könnte sie also schon oder noch um Hilfe bitten. Sie weiß, es ist nicht erlaubt, doch was sollte sie sonst tun? Sie ist nicht mehr so schnell wie vor 20 Jahren, wie gesagt, der Rücken, die Füße. Und noch mindestens 2 oder 3 Jahre liegen vor ihr. Sie schaut auf den Kalender, der im Stationszimmer über der PC Anlage hängt. Ein Bild von einem nackten Kind in einer Krippe ist darauf zu sehen. „Christkind!“, denkt Dorthe und zuckt matt mit den Schultern. Sie erinnert sich noch schwach an die Geschichten um das Kind dort, das den Menschen Liebe und Treue und Fürsorge bringen sollte. Hatte es nicht später sein Leben für uns Menschen gelassen?
Dorthe seufzt, sie denkt lieber nicht an die Vergangenheit. Und schon gar nicht an die Zukunft. Und trotzdem, was ist nur aus uns helfenden Menschen geworden? Damals, vor 20 Jahren war man auf so einer großen Station noch zu zweit. Heute? Alles wegrationiert, kaputt gespart, kaum ausgebildetes Personal vorhanden. Welch Mensch wollte denn noch im Krankenhaus arbeiten? Zu groß das Elend, zu viel Kranke, zu wenig Ärzte und Schwestern. Man hatte vor lauter Geizen und Knausern ganz vergessen, den Menschen im Notfall das zu nehmen, was sie gar nicht brauchten. Die Angst, ach … Und zu geben, was wirklich nötig war. Dorthe schüttelt gedankenverloren ihren Kopf. Sie hatte damals schon behauptet, dass die Menschen nicht für Millionen von Euros geschweißte Panzernähte bräuchten. Der nächste Krieg, hoffentlich kommt es nicht wirklich dazu, würde mit Viren, Keimen und Strahlen gekämpft werden, da war sie sich ganz sicher. Wie viel Viren, Keime oder Strahlen würde ein geschweißter Panzer zum Schutze der Menschen wohl erledigen?
„Nö!“ Dorthe murmelt es vor sich hin. Wir brauchen dann ja wohl eher Impftrupps, Inkubationskrankenhäuser und Verstrahlungswaschanlagen – oder so etwas in der Art, denkt sie. Und dafür ausgebildetes Personal
Heute Nacht klingeln die Patienten im 2 Minuten Takt. Runde machen wie früher, damals, am Anfang des Jahrtausends? Das ist nicht mehr drin. Die Kranken müssen sich melden. Wer zu viel klingelt, bekommt eine Abmahnung oder ein Beruhigungsmittel. Mit freundlichem Lächeln, doch immerhin. Es bricht Dorthe beinahe das Herz. Krankenpflege . Auf einem Ethikkongress hat sie einst das Wort Diagnoseträger gehört. Dazu passt ja wohl die Antwort Behandlungsausführer.
Dorthe versucht, sich zu beeilen, die Politik ist ja der Meinung, dass Pflegende und Heilende „ein wenig Stress“ wohl verkraften können. Leider, leider, leider befinden sich die Regierenden nicht im Fahrtwind der Helfenden, sie sitzen am Schreibtisch während sie ihre Reden schreiben. Im Krankheitsfall haben sie ihren eigenen Heilstab und müssen nichts entbehren, denn immerhin müssen sie uns ja auch regieren, das ist eine große Verantwortung. Gott sei Dank!
Graue Gedanken denkt Dorthe. Ein wenig resigniert zuckt sie mit den Schultern. Irgend jemand hat auf dem gleichen Kongress den Satz vom Kosten – Nutzen – Faktor im Bezug auf die Menschenwürde geprägt. Seit 20 Jahren nun denkt sie darüber nach. Und kommt so langsam zu dem Entschluss: Der ältere Arzt, der in der Diskussion dazu an die Tafel schrieb: Mehr Geld – mehr Leben??? Er hatte damals in die Zukunft gesehen und inzwischen Recht bekommen.
Dorthe wird schon lange nicht mehr böse darüber, ist schon lange nicht mehr entsetzt deshalb. Sie tut für die Menschen (Diagnoseträger), was sie kann. Es ist nicht mehr viel, denn ihr Alter setzt schon einige Grenzen.
Dorthe schaut aus dem Fenster. Die Nacht will dem nächsten Tag noch lange keinen Platz machen. Doch gut! Nur noch eine Stunde, dann würden die Drei von der Tagschicht erscheinen. Auf der Station ist es dank der Sedativa zum Glück endlich ruhig. Aus alter Gewohnheit schleicht Dorthe nun doch noch einmal von Zimmer zu Zimmer. Zum Glück ist alles okay, die Sterbenden werden wohl am Tage gehen, durch die Depotpräparate haben die anderen Patienten die Nacht gut überstanden. Nur in einem Zimmer herrscht Atemnot. Dorthe öffnet das Fenster weit, um dem Diagnoseträger Lungenkrebs mit der kühlen Morgenluft etwas Erleichterung zu bringen. Auch sie atmet tief die morgens ja nur leicht verschmutzte Luft ein. Da! Tatsächlich, sanft rieseln ein paar Schneeflocken vom hellgrauen Himmel – wie damals. Ach ja, es ist ja Weihnachten heute. Ein Lächeln tritt in ihre Gesichtszüge. Vielleicht, denkt sie, vielleicht gibt es ja doch noch was zu retten.







Petra | 25.12.07 - 11:10 Uhr | keine Kategorie | Kommentare(4092/0)




Oft ist da nur ein Hauch der Chance

Ein dünnes Rinnsal lief aus ihrer Nase. Rot. Blut. Erinnerte an einen sich leicht schlängelnden Fluss, so wie man ihn im Schulatlas auf einer Landkarte findet. Nur eben rot. Merthe lächelte bei diesem Vergleich, obwohl sie eigentlich entsetzt war. Erschrocken. Ungläubig, neugierig erschrocken. Mmm.

Die Mädchen in der geschlossenen Psychiatrie hatten sie gewarnt, ihr erfahren davon erzählt. Sie hörten sich neutral und normal an, diese Erfahrungen. Nasenbluten, ganz einfach. Irgendwann platzen die Gefäße durch den hohen Druck beim Kotzen. „Wenn du Glück hast, blutet nur deine Nase." Miene seufzte ziemlich erwachsen, nachdem sie Merthe aufgeklärt hatte. Sie wies mit ihrem Kinn hinüber zu Tjark, der, sich vor und zurückwiegend, in seinem Rollstuhl ans vergitterte Fenster gestellt worden war. Die Magensonde, die das eine Nasenloch auf eine bizarre Art weitete, dieser milchig trübe Schlauch mit einem grünen Anschlussstück, mit einem Heftpflaster an Tjarks Wange geklebt, schwang im Takt mit. Merthe erinnerte sich noch gedacht zu haben: Wieso ist das Anschlussstück grün? Grün steht ihm doch gar nicht, passt nicht zu seinen blauen Augen. Doch sie vergaß es ganz schnell wieder, schließlich sollte sie am nächsten Tag entlassen werden. Ihr würde kein Gefäß platzen. Weder in der Nase noch im Hirn. Sie hatte ihre Psychologen und den Psychiater überzeugen können: Ich werde nichtmehr kotzen. Auch nicht mehr fressen. Ihr habt mir geholfen, ich hab verstanden, echt. Sie konnte unglaublich überzeugend sein. Seit Jahren schon hatte sie Bulimie. Fraß und kotzte. Klaute Lebensmittel. Nur um sie hinunter zu schlingen und sie dann, mit ätzendem Magensaft vermischt, wieder hinauf zu würgen. Damit Platz war für all das, was sie noch so in sich hineinstopfen wollte.

Merthe hatte sich geschult. Im Erbrechen, im Klauen, im Lügen. Sie sagte ihren Therapeuten inzwischen die erwarteten Antworten auf, hatte so wahnsinnig viel Routine darin, dass sogar diese ihr glaubten. Alles Lüge. Aber deshalb hatte sie schneller Ruhe. Sie und auch die Therapeuten. Okay.

Jetzt aber stand Merthe vor dem Spiegel im Bad, die Luft war geschwängert mit einer Mischung von ·dem Gestank des Erbrochenem und dem biliigen.WC Reiniger, den sie zur Tarnung Literweise ins Clo kippte. Merthe wollte nicht mehr erwischt werden. Ihre Mutter hatte sie, völlig entkräftet und am Rande eines Nervenzusammenbruches, in die Psychiatrie einweisen lassen. Merthe erinnerte sich nur zu genau daran: Sie hatte gebettelt und gefleht, nicht wieder die Psychiatrie. Nie wieder Zwangsernährung in Lederfesseln. Merthe hatte ihre Mutter verflucht, beschimpft: „Eine Hure wie du hat keine Kinder verdient. Du alte Idiotin, ich werde mich rächen, du Miststück." Sie hatte gekreischt, geschrieen, um sich geschlagen, gebissen und gespuckt. So lange, bis fünf Schwestern und Pfleger sie in eine 'Hab mich lieb Jacke' gesteckt und voll Beruhigungsmittel gepumpt hatten. Fünf erwachsene Menschen waren dazu nötig gewesen. Die schallgedämpfte Tür des Behandlungsraumes hatte sich mit einem dumpfen Geräusch geschlossen. Merthe sah die Tränen ihrer Mutter nicht mehr. Auch nicht das graublasse Gesicht ihres Vaters, der mit hängenden Schultern neben ihrer Mutter stand. Merthe sah nicht, wie die bei den sich umdrehten und gingen. Ohne noch ein Wort zu verlieren. Ohne zurück zu sehen. Bulimie. Diese Krankheit verlangt unglaubliche Opfer und bringt völlig irre Ergebnisse. Krass.

„Am Ende steht der Tod. Ganz früh. Und immer dann, wenn du ihn gar nicht haben willst. Er wird dich lachend kassieren, Kind!", hatte Schwester Maria Magda, eine alte Nonne zu Merthe gesagt. „Er wird dich kassieren. Vielleicht blutig. Oder im Schlaf. Oder mit dem Kopf im Clo. Es liegt bei dir, wie schnell er dich kriegt. Aber er kriegt dich. Glaub mir."

Merthe hatte ihre blonden, immer leicht verklebten Locken in den Nacken geworfen und grinsend geantwortet. „Mich kriegt er nicht so schnell. Bin doch nicht blöd. Ich hab meine Lektion gelernt, Schwester. Ehrlich." Dazu schenkte sie der Nonne noch einen passenden Augenaufschlag, sehr überzeugend die Vorstellung.

„Deinen Text hast du gelernt, kleines, dusseliges Lebewesen. Mehr nicht. Das kann jeder. Jeder von euch Dummköpfen kann das. Von euch kleinen, hässlichen Biestern. Ich kann nur hoffen, dass ihr selbst eines Tages etwas merkt. Ihr selbst. In euren eigenen, kleinen, dämlichen Köpfen." Sie tippte mit ihrem dünnen Zeigefinger heftig gegen Merthes Stirn. „Da drinnen musst du es klicken lassen. Denn nur du allein bist in der Lage, dir zu helfen. Ach, wozu sag ich das nur. Ist eh zwecklos. Wenn du tot bist, Kleines, wenn du dein Leben ausgekotzt hast, werde ich für dich einen Rosenkranz beten. Damit er da oben dir verzeiht." Schwester Maria Magda wandte sich ziemlich abrupt von Merthe ab. Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. - Altes Weib, was wusste die schon. - Merthe lebte an der Oberfläche ihres kleinen, feigen Lebens. Ohne Selbstbewusstsein, ohne ihren Verstand. Sie erinnerte sich auch an dieses Gespräch. „Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!", hatte die alte Nonne vor sich hingemurmelt.

Jetzt, in diesem Augenblick, in dem Merthe das Blut aus der Nase rann, fiel ihr dieser Satz wieder ein. Wieder lächelte Merthe in den Spiegel hinein. Das Mädchen, das verzerrt zurückgrinste, war grau und blass, die Lippen gaben gläserne, gesprungene, von der Magensäure angegriffene Zähne frei.

„Wie zart du doch bist!", dachte Merthe an ihrer Oberfläche. Auch wenn ganz tief unten im Bauch jemand um Hilfe schrie: „Du bist hässlich, mager, eklig und du stinkst! Hör endlich auf damit. Du bist widerlich, ein Versager."

Merthe hielt sich die Ohren zu. Ihr war übel. Zeige- und Mittelfinger ihrer linken Hand strichen wie zum Trost über ihre Lippen, über ihre Zähne und suchten sich den Weg über die Zunge bis hinein in den Rachen. Shit! Sie hatte nichts mehr im Magen. Ein dumpfes Dröhnen machte sich breit in ihrem Kopf. Sie öffnete den Wasserhahn, drehte ihn so weit es ging auf. Das Rauschen des Wassers würde vielleicht ihr Würgen übertönen. Doch Merthe hörte das Wasser kaum noch. Es hatte sich entfernt, wurde leiser und leiser. Ein dunkler Schleier senkte sich langsam vor ihre Augen. Nahm ihr die Sicht auf ihr kleines, armseliges Leben. Auf das Clo, über das sie sich beugen wollte. Sie merkte noch eine seltsame Kälte in sich aufsteigen. Den Sturz und den Aufprall auf den Boden des Bades merkte sie nicht mehr. Aus. Ein ganz normaler Tod für ein Mädchen mit sechzehn. Bulimie.

Petra | 05.06.07 - 07:18 Uhr | keine Kategorie | Kommentare(4102/0)




Tanja und Micha haben geheiratet!

Alles Liebe dazu, :-)

Hier ein paar Gedanken von George zu diesem Thema:

Eifersüchtig

Das, was ich Euch heute berichte, ist wirklich fast wahr. Ich kann es bestätigen, dass diese Geschichte sich genau so zugetragen hat. Schließlich war ich dabei und habe sie aus einem Gebüsch heraus belauscht!

Es ist noch gar nicht so lange her, dass George seinen dicken, glänzenden Kopf aus dem saftigen Gras erhob, laut seufzte und schnaubend murmelte: "Ist ja wohl nicht wahr! Ich glaub es beinahe nicht, da hat dieser Mensch doch meine süße Tanja gebissen. Und das mitten ins Gesicht. Ich hab's genau gesehen!" Tief holte er noch einmal Atem, um wiederum betrübt zu schnobern - beleidigt und pikiert. Seine Tanja! Das durfte doch wirklich nicht wahr sein!

"Nun stell dich mal nicht so an, alter Knabe!" AI dente, selbst nicht mehr der Jüngste, wollte gar nicht glauben, was er da eben gehört hatte. "Dieser Mensch hat sie bestimmt nicht gebissen, glaube mir, ich hab das auch schon mal beobachtet. Hat es dabei gesaugt und geschmatzt und geseufzt?" AI Dente sah seinen Freund neugierig an.
"Aber sicher hat es das! Ganz merkwürdig, diese Geräusche! Aber zu deiner Beruhigung: Meine Tanja hat zurück gebissen, echt! Die lässt sich nicht einfach alles gefallen!"

Trixi und Funny, die beiden unzertrennlichen Ponystuten, fingen an zu kichern. "Das nennt man küssen, du Depp! Noch nie gehört? Auf welchem Planeten bist du nur groß geworden, George? Das hat mit Beißen nichts zu tun. Menschenmädchen und Menschenjungen zeigen sich so ihre Zuneigung."

George dachte eine Weile nach. "Wenn das mal so stimmt." Er murrte vor sich hin. "Wenn Tanja mir ihre Zuneigung zeigt, dann klopft sie ganz laut meinen Hals, so dass es klatscht. Und je doller es klatscht, umso lieber hat sie mich, jawoll!"
"George, du Dummie. Weißt Du denn gar nicht, dass Menschenjunge sich nicht klatschen? Wenn die sich was an den Hals hauen, sind sie bestimmt nicht voller Zuneigung füreinander, glaub es mir. Dann knistert die Luft und besser ist es, wenn man ihnen in solchen Momenten aus dem Weg geht!" Trixi nickte weise und grinste vor sich hin. Männer!
"Außerdem hat Tanja diesen männlichen Menschen sehr lieb. Ich weiß das. Er heißt Micha und ist bald Tanjas Mann." Funny versuchte, George zu beruhigen. Der Alte Kerl sollte sich nicht so um seine Reiterin sorgen. Funny hatte auf dem Hof gehört,
dass Micha als Männchen richtig gut zu gebrauchen war. Einer, der für die rollenden Pferdestärken immer zur richtigen Zeit den richtigen Rat hatte. Wenn die krank waren, schraubte er an ihnen herum und schwuppdiwupp waren sie wieder gesund. Quasi war Micha für die Benzinpferde so etwas wie ein Tierarzt.

George war aber immer noch besorgt. "Und wieso hat dieser Micha dann Tanja gestern an sich gedrückt? So, dass sie ihre Arme gar nicht mehr bewegen konnte? Sicher hatte er Angst, dass Tanja ihn doch noch klatscht, weil er ihr in den Kopf
gebissen hat!" Und, wie um seine Überlegungen zu bekräftigen, stampfte er mit einem Vorderhuf heftig auf.

AI Dente schmunzelte. "Oh je, George. So sind die Menschen. Micha hat Tanja nicht fest gehalten, er hat sie ganz liebevoll umarmt. Und gedrückt. Menschen machen das so. Es ist gaaanz lieb gemeint. Bist Du etwa eifersüchtig?" AI Dente wieherte grinsend.

"Da lachen ja die Hühner - ich und eifersüchtig. Nö, ganz bestimmt nicht." Doch die Pferde um George herum hatten es richtig erkannt. George war eifersüchtig. Seine liebe Tanja ....

Oh je! Aber - wenn das alles für Menschen normal ist, überlegte er sich, dann werde ich mich wohl daran gewöhnen müssen. "Hauptsache, meine Tanja ist glücklich!"
Aldi stellte sich neben George und knubberte ihm liebevoll sein Fell. "Na siehst du! Ist doch gar nicht so schlimm, nicht wahr? Schau dir nur den Micha an. Er ist wirklich ein ganz Lieber. Du wirst ihn auch mögen, bestimmt."
Da nickte George und war beruhigt. Und auch ein klein wenig Stolz auf Micha. Schließlich verstand der ja wenigstens eine Menge von Pferdestärken. Und so unter Männern ....
"Hauptsache, er fängt nicht an, auch noch an mir herum zu schrauben!", schnoberte er und wandte sich wieder dem saftigen Gras zu.


Eine Geschichte für Tanja und Micha, belauscht in Rurup im Mai 2007

Petra | 12.05.07 - 14:20 Uhr | keine Kategorie | Kommentare(1/0)