Ich bin Deine Schwester

Eine Erzählung von den Merkwürdigkeiten des Lebens,über Gedanken einer Krankenschwester, die das heutige Arbeiten mit Patienten kaum noch ertragen kann, über das Leben, das vom Herzen regiert werden sollte.
Zur Erinnerung an Nils und Günter und für meine Kinder und alle meine Freunde

Nicht die Augen verschließen - sehen - dankbar sein und leben ...

Vorwort

Sie ist kein frommes Gretchen, keine Betschwester. Sie ist, ganz einfach, eine Frau. Mit dem Beruf Krankenschwester. Der ist nicht einfach ein Job, der sich durch das ganze Leben Maries zieht, eher eine Berufung. Die Schwester der Kranken zu sein – das kann so viel bedeuten. In dieser Erzählung geht es um die Erfahrungen, die Marie um das Überleben und um das Sterben macht. Aber auch die Zeit dazwischen sorgt für Merkwürdigkeiten. Marie erzählt, aus der Sicht der Frau, der Mutter und der Krankenschwester darüber. Sie erzählt von merkwürdigen Freundschaften, von Liebe, von ihren Ehen und der Hoffnung, die sie niemals aufgibt, egal, was das Leben ihr bringt. Dazu gehört Gewalt in der Ehe, Psychoterror, Nötigung, genau so wie Lachen, Erfolg und Glück – all das lernt Marie als Teil ihres Lebens kennen.
Der Leser begleitet Marie auf einer Berg und Talbahnfahrt, erfährt, dass nicht alles im Leben allein zu bewältigen ist, dass wirkliche Freunde ruhig um Hilfe gefragt werden dürfen, und dass man Hilfe auch annehmen kann – ohne sich auf Ewigkeiten zu verpflichten.
Ihr Beruf Krankenschwester prägt Marie, natürlich. Sie zeigt den Weg in die Betreuung kranker Menschen ohne Angst und erfährt, wie viel Herz und Mitgefühl dazu mitgebracht werden muss. Denn der Umgang mit Leben und Tod, Lachen und Weinen muss erst erlernt werden. Gerade für ganz junge Menschen ist es oft schwer, damit umzugehen. Also nicht einfach ein Job, der sich durch das ganze Leben Maries zieht, eher eine Berufung. Die Schwester der Kranken zu sein – das kann so viel bedeuten.
Auch in Maries Privatleben gibt sie viel von ihrer Liebe zu den Menschen ab. Obwohl sie selbst mitunter durch eine Hölle geht, Alkoholismus, Kindesmisshandlung und auch so einiges über Betrug und Lügen erfahren muss, lässt sie sich nicht entmutigen. Probleme machen Marie stark. Um zu überleben baut sie in ihrer Freizeit einen Pferdebetrieb auf. Pferde und Reiten und Kinder! Die Quelle, aus der sie schöpft: Kraft, Mut und Lachen. Und Zufriedenheit. Sie hat erkannt, wie viel eine Frau erreichen kann, wenn sie mit offenen Augen und großem Herzen durchs Leben geht.
Mal übermütig, dann wieder nachdenklich und sehr ernst berichtet Marie über ihr vielleicht nicht ganz normales Leben, auf das sie letztendlich doch zufrieden und lächelnd zurückschaut.
Marie hat gelernt: Unten zu sein bedeutet, dass jeder Weg nur bergan gehen kann.


Der Anfang

Gerade eben hatte ich noch seine blasse, kalte, sterbende Hand gehalten. Ein letztes Mal.
Warum tu ich mir eigentlich immer wieder so etwas an? Ich stellte das Autoradio aus,
wollte nichts hören und eigentlich auch nichts sehen. Nur meine Gedanken, die ließen sich nicht stoppen, gar nicht.
Als ich damals, als Kind schon wild entschlossen war, Krankenschwester zu werden,
hatte ich mir vorgestellt, dass meine Hauptaufgabe sei, Menschen gesund zu pflegen und ihnen so mit allen meinen mir zur Verfügung stehenden Kräften zu helfen.
Dass diese Aufgabe aber mein ganzes Leben beeinflussen sollte, das hatte ich mir in dieser Form nicht ausgemalt. Krankenschwestern sind ganz normale Menschen. Oder doch nicht? Vielleicht mit einer ein wenig mehr ausgeprägten Sozialkompetenz, mit einem großen Herzen für das Leid anderer, sicher. Doch wir sind nicht unbedingt Betschwestern. Oder als Krankenpfleger Softies, weich und ohne Muskeln. Nein, gerade heute stelle ich immer wieder fest: Wir sind wie Du und ich, nicht anders! Nicht anrüchiger als Sekretärinnen, nicht hübscher als Verkäuferinnen nicht klüger als die Ärzte. Wir sind einfach Schwestern von Beruf.
Shit happens!, dachte ich und seufzte, denn immer wieder tauchte Michas Gesicht vor meinen Augen auf. Ich schüttelte heftig den Kopf, als könne ich dieses Bild so vertreiben.
Merkwürdig, grübelte ich weiter. War das eigentlich alles normal, was ich im Laufe meines Lebens erlebte? Wo lag der Sinn darin? Und wo fand ich die Erklärung für die vielen skurrilen Dinge, die um mich herum geschahen?
Doch, so oft ich darüber nachdachte, es blieb unerklärlich, eher erstaunlich. So kam ich zu dem Entschluss: Das alles ist meine eigene Normalität. Das bin ich. Schon als Kind traf ich ständig auf merkwürdige Begebenheiten, so nehme ich jetzt mal an: Das ist mein Schicksal. Meine Straße. Okay.
Bis heute kann ich es mir nicht erklären, weshalb ich schon als Kind nie etwas anderes in Erwägung gezogen hatte: Ich wollte Krankenschwester werden und nichts anderes!
Noch einmal seufzte ich. Und nahm mir vor, über alles Erlebte schriftlich nachzudenken, es festzuhalten, um nichts und niemanden zu vergessen. Für später, wenn es wirklich ruhiger um mich werden sollte.

Sonneninsel

Oh man, Marie, schon wieder! Sollte die Zeit um dich herum nicht ruhiger werden, gelassener? Ich lächelte müde bei diesem Gedanken, zuckte mit den Schultern. Besorgt sah ich aus dem Fenster des Touristenbombers, draußen herrschten zehn Grad minus. Die Tragflächen des Fliegers wurden enteist, Hannover Airport morgens um drei Uhr, damit die Reise nach Gran Canaria losgehen konnte. Obwohl es sehr warm in der Kabine war fror ich immer noch. Übermüdet, besorgt, traurig. Mit mindestens einem Liter Adrenalin im Blut das mein Herz rasend schnell schlagen ließ. Ich bin nun mal keine Heldin, wenn es um das Fliegen geht. Habe so etwas wie Start- und Landepanik, oben und wieder unten geht es dann.
Krampfhaft versuchte ich ruhiger zu atmen, mich zu entspannen. Krampfhaft, das Wort lässt schon erahnen, dass ich nicht gerade den großen Erfolg damit hatte. Egal: Gefangen von einem festgezurrten Sicherheitsgurt saß ich hier in diesem Flugzeug. Es gab kein Zurück. Nun gut, der Pilot möchte sicher auch gern mit heiler Haut nach Hause kommen fuhr mir durch den Kopf. Ich schloss die Augen und gab mich relativ demütig den Gegebenheiten hin. Es würde schon alles gut gehen. Hoffentlich.
Wenn jemand mir heute Morgen beim Aufstehen gesagt hätte, dass ich mitten in der Nacht in einem Flieger nach GC sitzen würde, dann hätte ich ihn besorgt angesehen und gefragt: „Sonst geht es dir aber gut, ja?“ Ihn für verrückt erklärt. Und doch servierte mir gerade in diesem Moment eine freundliche Stewardess so etwas wie ein Abendessen und ein Glas Sekt. Sie nickte mir dabei freundlich zu, ein wenig steril, einstudiert. Es war mir egal, sie machte halt ihren Job.
„Danke, den Sekt nehme ich gern.“ Sekt, prickelndes Freudengetränk – passte eigentlich gerade gar nicht. Nicht zu diesem Freundschaftsdienst, den ich ohne lange zu überlegen vor nur wenigen Stunden angetreten hatte, der daran Schuld war, dass ich jetzt hier saß.
Frank hatte mir irgendwie den Rest an Überzeugung gegeben, das hier zu tun. „Ich weiß, Marie, wie es ist, wenn ein Freund geht. Wenn man gar nichts mehr tun kann. Oder wenn man eben nur noch da sein kann für das letzte Stück Weg.“
Natürlich wusste er es, er selbst hatte erst vor ein paar Wochen seinen allerbesten Freund verloren, ihn auf seinem letzten Weg begleitet. Das getan, was ihm als einziges noch blieb, er hatte Nils begleitet bis zu seinem viel zu frühen Ende.
Ich lehnte mich zurück in den unbequemen Sitz und schloss die Augen. Von irgendwoher wehte mir ein kalter Luftzug ins Gesicht, egal.
Sie waren damals noch richtige Kinder gewesen als sie sich kennen lernten, Nils und Frank.
„Pah! Der ist aber doof, Mama!“ Ich kann mich noch sehr gut an diese Worte erinnern. Frank war gerade neun, Nils glaube ich zwölf. Er hatte
gerade einen Plattdeutsch-Vorlesewettbewerb gewonnen und trug nun die Aura des Siegers stolz zur Schau. Nils war ungefähr einen Kopf größer als Frank und hatte herablassend an dem neuen Fahrrad herumgemäkelt. Es war mein Geburtstagsgeschenk für meinen Sohn gewesen, er hatte es sich damals so sehr gewünscht. Kein Wunder, dass dieses Rad sein ganzer Stolz war.
„Na ja, ein Kinderrad halt!“ Nils grinste Frank von oben herab an, wohl wissend, dass er den Kleinen damit locker auf jede Palme bringen konnte. Schon damals hatte er dieses überlegene – Komm mal wieder runter, war doch nicht so gemeint – Lachen, unvergesslich. Es hatte den Kleineren wirklich erzürnt. Frank sah so aus, als wolle er Nils in der nächsten Sekunde vors Schienbein treten. Dennoch war es dieser Tag, dieser Moment, der die beiden Jungs für lange Zeit zusammen führte und verbinden sollte. Es dauerte nicht lange, bis sie so etwas Ähnliches wie Brüder wurden. Über die Jahre bekam Nils für mich den Status eines vierten Sohnes. Seine Mutter war beruflich viel unterwegs, sie wusste, dass er bei uns gut aufgehoben war.
Nils war mutig. Er war ein Kämpfer. Judo, Karate, Kickboxen – Frank eiferte ihm nach, lernte. Nils – Franks großes Vorbild. Und die Musik. Im Laufe der Jahre lernte Nils fantastisch Trompete zu spielen, klassisch, jazzig, laut oder gefühlvoll – alles ging. Frank klampfte dazu auf seiner geliebten Gitarre. Die Beiden wurden tatsächlich bis ans Ende unzertrennlich. Äußerlich waren sie sehr verschieden. Frank dunkelhaarig mit fast schwarzen Augen, Nils blond und blauäugig, ein interessantes Teeniegespann, unternehmungslustig, übermütig. Und voll explosiver Ideen. Immer war der Eine für den Anderen da. Nils und Frank, eine Einheit. Sie griffen Dinge an, die andere sich gar nicht erst trauten. Manchmal sehr anstrengend, die zwei Burschen. Doch sie waren Meister im Geradebiegen von Situationen. Unglaublich, auf eine kuriose Art waren sie nicht nur Freunde und Brüder, nein, sie waren sich später auch gegenseitig Vaterersatz.
Es war Nils, der Frank damals, als Hanno ging, getröstet hatte. Der ihm half, die Stärke zu finden, die Kraft, die er als mein ältester Sohn brauchte, um mich zu unterstützen. In einer Zeit, in der es uns allen schlecht ging.
„Ich hab noch ´ne Überraschung für dich, Marie!“ Mit strahlenden Augen sah mein Sohn mich an. Es war Heilig Abend, das erste Weihnachten, das ich mit meinen Söhnen ohne ihren Vater erlebte. Die Tür ging auf und Nils kam herein – mit seiner Trompete. Er spielte Stille Nacht ..., nur für mich. Ich war zu Tränen gerührt. Auf einmal war es wirklich Weihnachten. Obwohl es die schlimmste Zeit war, die es zu überstehen galt.
Damals waren Nils und Frank schon keine Kinder mehr. Sie fingen an, hin und wieder durch die Gemeinde zu ziehen, waren das erste Mal gemeinsam Betrunken. Kein Geld zum Feiern? Das gab es nicht. Die Musis, Trompete und Gitarre, begleiteten die Jungs auf ihren Kneipenzügen und spielten so die Getränke rein. Eine ziemlich schräge Art, sich die Wochenenden zu finanzieren, aber die Menschen an den Theken mochten das. Damals war auch Max schon mit dabei, er war so etwas wie mein Findelkind aus Argentinien. Nicht, dass ich ihn gefunden hätte, nein, es war wohl eher umgekehrt. Er blieb als Folge eines Schüleraustausches bei uns hängen und wurde, zusammen mit seiner Gitarre, schon bald der dritte Mann im Team.
Später wurde Nils der Trompeter und das Maskottchen einer bekannten Handballmannschaft bei uns im Norden. Natürlich hatte er auch dort Frank im Schlepptau. Und sie fuhren zusammen zu Reitturnieren, die von Frank gewonnen wurden, nur „Weil ich dich gefahren habe“. Das war Nils Kommentar, wobei er Frank immer mit dem Stolz eines großen Bruders ansah. Immer war der Eine für den Anderen da. Immer. Auch in der schweren Zeit des Abschiednehmens.
„Warum muss ausgerechnet Nils diesen bösartigen Gehirntumor haben?“ Frank versuchte krampfhaft die Fassung zu bewahren. Es gab keine Antwort auf diese Frage, sie war sinnlos, überflüssig. Wenn auch verständlich.
„Kann man denn gar nichts mehr tun für den Jungen?“ Fünf Jahre lang hatten wir Nils durch diese widerwärtige, gemeine Krankheit begleitet. Fünf lange Jahre des Hoffens, des Ignorierens, des Kämpfens. Ich hätte Frank so gern Hoffnung gegeben. So viel Hoffnung. Aber das wäre falsch gewesen. Nils selber wollte zum Schluss diese Hoffnung nicht mehr. Er hätte gern noch gelebt, wir alle hatten es ihm so sehr gewünscht. Aber die Kraft reichte nicht mehr aus für ein normales Leben. Ich weiß nicht, wie oft Nils mit mir über diesen wahnsinnigen, alles zerstörenden Feind in seinem Kopf gesprochen hat. Wie oft ich ihm Mut zugesprochen habe, wie oft wir über den Tod sprachen. Wir alle hatten ihn immer wieder vor uns her geschoben. Und trotzdem: Als er kam, waren wir noch gar nicht wirklich vorbereitet. Nur Nils, er war stark und akzeptierte.
Das Letzte, das er mir sagte, war: „Sag Frank meinen Dank. Er ist ein Kämpfer, der so viel Positives an sich hat. Er gibt mir auch jetzt noch enorm viel Kraft. Kraft geben und positiv sein, das ist wirklich seine Stärke. Ich bin Stolz darauf, dass er mein Freund und Bruder ist.“ Nils umarmte mich, er war schon sehr schwach, doch ich konnte deutlich sein Herz schlagen fühlen. „Ich geh dann mal.“ Er war dabei nicht traurig. Nein, er wirkte total zufrieden und meinte es ganz ehrlich. Wollte nicht jammern. Nicht bei mir.
Seine Mutter half ihm ins Auto, er drehte sich nicht mehr um. Nie mehr. Zehn Tage später starb er im Krankenhaus. „Mit einem Lächeln im Gesicht ...“, sagte Ellen, seine Mutter. Nils wurde nur vierunddreißig Jahre alt.
Es ist heute noch schwer, ihn los zu lassen. Er ließ uns zurück in einem Tal der Tränen, des Schmerzes, der Trauer und der Wut. Immer noch ist er bei uns, in den Klängen seiner Musik, in Bildern und in unseren Gedanken. Ist weiter ein Teil von uns.
„Flieg, Marie!“, hatte Frank mittags gesagt. „Du wirst es dir sonst nie verzeihen.“
Gerade in diesem Moment konnte ich Nils deutlich fühlen. Er war im Jetzt, so merkwürdig es sich auch anhörte. Ich spürte ihn hier in diesem Flugzeug, das mich zur Sonneninsel brachte. Nils hatte keine Schmerzen mehr, spürte keine Qual. Er tauchte vor meinen geschlossenen Lidern auf. Konnte laufen, lachen, albern sein. Und sprechen. Ohne zu stammeln. Geschloss´ne Augen sehen mehr, als off´ne jemals sehen können.
„Ist Ihnen kalt?“ Die freundliche Stewardess reichte mir eine Decke, die ich dankend annahm. Müde versuchte ich, mich einzukuscheln in dieses viel zu kleine, an allen Enden zu kurze Etwas. Ich hätte so gern geschlafen, doch meine Gedanken schickten mich immer wieder zurück in die Vergangenheit. Ich hatte das Gefühl, sie schützten mich vor dem, was kommen sollte. Noch nicht daran denken, nein, du hast es doch erst vor Kurzem alles gehabt. Nicht schon wieder. Tränen schossen in meine Augen, Tränen, die ich nicht mehr weinen wollte.
Und nun Micha. Fast ein viertel Jahrhundert war er mein Freund gewesen. Freund! Nicht immer hatten wir uns vertragen. Es gab Momente, da konnten wir nicht aufeinander treffen, ohne dass es knallte. Und doch, auf eine ganz seltene Art, waren wir uns immer sehr nah. Es gab Zeiten, in denen die Menschen um uns herum schworen, dass wir eine Beziehung hätten. Ganz sicher war ich irgendwann auch mal in ihn „verschossen“, nicht verliebt, Liebe gab es zwischen uns nicht. Dafür hatte er die Anderen. In den ganzen Jahren unserer skurrilen Freundschaft hatte Micha immer wieder versucht, einen Fuß in meine Tür zu setzen, zwanzig Jahre lang, immer wieder. Aber es blieb bei dem Versuch. Ich wollte sein Freund sein, nicht einmal seine Freundin, mehr nicht. Dafür hatte er unendliches Vertrauen zu mir, dieses Vertrauen ließ es auch zu, dass ich ihn bis zum Schluss begleiten durfte. Das Leben hatte uns auf diese Positionen gestellt, ihn als meinen Freund und Tierarzt, mich als seinen Freund und zum Ende als seine Schwester. Jeder wunderte sich darüber, dass zwei so verschiedene Menschen so eine intensive, wenn auch etwas bizarre Beziehung haben konnten. Schwer zu akzeptieren, es war halt einfach so. Ich lächelte in mich hinein. Wie oft hatte man sich bei mir über ihn beklagt: Micha sei unhöflich, wortkarg und polterig.
„Du hast mich nach einem guten Tierarzt gefragt. Einem Spezialisten, der wirklich etwas von Pferden versteht. Also. Das ist er, meiner Meinung nach der Beste. Er ist schließlich nicht da, um dich zu unterhalten, sondern um deinem Tier zu helfen. Also krieg dich mal ein.“ Meistens konnte ich mir bei diesen Worten ein Grinsen nicht verkneifen. Für ihn kamen immer die Tiere zu erst und nicht die „hysterischen Besitzer“ – seine Worte. So war er halt. Erst die Tiere, dann eine ganze Weile lang gar nichts und dann die, die sich um ihre Tiere Sorgen machten.
Und jetzt? Jetzt lag er in einem wildfremden Krankenhaus auf Gran Canaria und kämpfte um sein Leben. Ein kleines, schwaches Leben war ihm noch geblieben. Er liebte es. Denn er hoffte trotz allem und immer noch auf das berühmte Wunder. Wehmütig und schon sehr geschwächt und dennoch unermüdlich, fast stur.
„Einmal möchte ich noch diesen wunderschönen Flecken Erde sehen. Die Sonne auf meiner Haut fühlen, die Wärme spüren. Einmal noch die salzige Luft schmecken, mit meinen Füßen in der Gischt stehen und mich unsterblich fühlen.“
Ich kann mich erinnern, dass ich dazu nickte. Und mit Macht versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
„Heulsuse!“ Er lächelte sein überlegenes Lächeln, seine Freunde schätzten es so sehr an ihm. Selten genug bekam man es zu sehen, Micha hatte das Lachen nicht gerade für sich gepachtet. Doch wenn er lachte, hatte das Lachen einen glücklichen, ehrlichen Klang. Und sein Lächeln steckte an. „Stell dich nicht so an, noch kann ich die Reise schaffen, Marie.“
„Ich sag ja auch gar nicht, dass du sie nicht schaffst. Und ich verstehe, dass du die Zeit nutzt. Es kann dich eh keiner Aufhalten. Dickkopf!“
Micha war das, was ich eine Kampfkugel nenne. Als man ihn vor einigen Monaten an seinem Krebs operierte, war er schon sehr schlank, sehr schwach. Aber er kämpfte, wollte sich seinen doofen Krebs nicht gefallen lassen. Er kämpfte auf seine eigenwillige, völlig chaotische Art und Weise. Er, der Bär! Sein Leben lang hatte er gekämpft, für die Tiere, für sich, für seine Klinik, für seine Freunde – wenn sie ihn darum baten. Er lebte sein Leben auf eine völlig introvertierte Art, niemand hatte wirklich Zugang zu ihm. Es gab Zeiten, da erschrak er sich selbst über seine Unfähigkeit sich Menschen gegenüber zu öffnen. Kein Wunder, dass er all seinen Freunden verboten hatte, ihn im Krankenhaus zu besuchen. Nein! Er wollte nicht so schwach und dünn und ausgemergelt gesehen werden. Niemals. Von niemandem, nicht von seinen Freunden, nicht von seinen Kollegen, nicht von seiner Schwester. Keiner sollte ihn so zu Augen bekommen, schon gar nicht eine der Frauen, die er sich immer wieder für kurze Wegstrecken auserkoren hatte.
Es genügte ihm, dass ich seine Vertraute war. Für den Rest, der ihm noch blieb.
„Wenn ich gehe, Marie, wirst du dann bei mir sein und mir über die Straße helfen?“ Er nannte sein Sterben so, weil es sich nicht so erschreckend anhörte, vielleicht auch, weil er auf der anderen Seite ein: Es geht weiter erwartete. Ich weiß es nicht.
„Sicher werde ich da sein, Micha, ich verspreche es. Aber es soll noch lange nicht so weit sein. Los, kämpfe!“ Mehr gab es nicht zu sagen. Er war nicht zu bewegen, über seinen Tod zu reden, ignorierte seinen Zustand, den Tod, das Leben um ihn herum und schaffte sich seine eigene Zukunft. Jeder Versuch, mit ihm über Stella, seiner vielleicht einzigen Tochter, zu sprechen endete mit dem Ausspruch: „Hör auf zu nerven, ich habe keine Kinder!“ Ich akzeptierte das. Micha sperrte das Leben aus. Lebte hinter geschlossenen Vorhängen, war nicht zu bewegen, seine Freunde in sein Haus zu lassen, schon gar nicht seine Schwester zu sehen, nein! „Sie würden mich alle nur anglotzen! Oder Heulen. Wie ich das hasse!“ So war sein Beschluss. Er machte schon immer, was er wollte. Und nun erst recht!
Im Spätsommer, nach seiner großen Operation verschwand Micha ohne Abmeldung aus der Klinik, war einfach nicht mehr da. Sein Bett war leer als ich vor Antritt meiner Nachtwache schnell noch nach ihm sehen wollte.
„Sag mal, so langsam fällt mir dazu auch nichts mehr ein, Micha. Du kannst doch nicht einfach abhauen.“ Ich erreichte ihn zu Hause am Telefon. Bei aller Freundschaft, das fiel sogar mir schwer zu verstehen.
„Marie. Ich möchte keine Bestrahlung und auch keine Chemotherapie. Was soll ich also noch dort? Man hat mich operiert, alles entfernt was schlecht war, es geht mir gut!“
„Natürlich! Das Leben geht ja weiter, auch wenn man keinen Magen mehr hat. Und den Tumor in der Lunge, den man nicht operieren kann, den ignoriert man weg. Du bist so ein Idiot!“ Ich war wirklich zornig.
„Marie, ich weiß es, es gibt keine Konsequenzen mehr für mich. Nun reg dich nicht auf, ich werde sterben. Irgendwann. Schluss jetzt mit der Debatte!“
Nie wieder haben wir über das Sterben als Abschied für immer gesprochen. Doch nun war ich auf dem Weg in dieses Krankenhaus unter der Sonne.
Franz hatte mich angerufen und voller Sorge von dem schlechten Zustand Michas berichtet. „Ich würde ja selbst rüber fliegen, wenn ich nicht so schlimme Knie hätte.“ Ich glaubte ihm. Nicht nur einmal hatte er mir geholfen, Micha zu Hause die Schmerzen zu nehmen. Ihm seine Wünsche zu erfüllen, damit er nicht wieder ins Krankenhaus musste. Mit Schmerzmitteln aus der Tierklinik, die Micha selbst forderte und ihm so auch halfen. Medikamente, die in der Tier- genau so wie in der Humanmedizin verwendet werden. Franz wusste, dass es nicht ganz Recht war, aber es war auch irgendwie nicht ganz Unrecht. Schließlich war Franz schon seit Ewigkeiten Tierarzt und litt offensichtlich mit. „Nur, damit ich nicht diese wahnsinnigen Schmerzen ertragen muss.“ Gut, Micha war halt auch Arzt und wissend.
Kurz nach dem Gespräch mit Franz meldete sich Micha bei mir: „Mir geht es total beschissen, Marie.“ Ein heiseres Raunen, erschöpft, müde kam aus dem Hörer. „Ich mag nicht mehr. Bitte, Marie, bring mir Eutha. Ich flehe dich an.“ Seine Worte klangen jetzt wie von Tränen erstickt. Eutha – die Erlösung für die Tiere, für die er keine Hoffnung mehr sah, nur die Unmöglichkeit, weiter zu leben. Kein Entrinnen vor den Schmerzen, nur noch Qual und hässliche Hoffnungslosigkeit.
„Sag mal, du tickst wohl nicht richtig. Ich bin doch kein Killer!“, schrie ich ihn an. Ich glaube, das war eine ganz normale Reaktion. Wie verzweifelt musste Micha sein, um so etwas von mir zu fordern.
„Bitte Marie. Ich habe so starke Schmerzen. Und ich bekomme hier nichts Rechtes dagegen. Es hilft nichts, ich liege hier und es geht nicht weiter. Bitte, hilf mir.“ Ich war erschüttert.
„Okay, Micha, halte durch. Ich werde versuchen, dich zu holen. Gib nicht auf, ja? Bin bald da!“ Keine Ahnung was ich mir dabei gedacht hatte, als ich ihm versprach zu kommen. Ich wusste jedoch, dass er mich jetzt – für das Ende – brauchte.
Mühselig gelang es mir, noch einen Flug von Hannover aus zu ergattern. Sonja, die Frau von Franz, hatte irgendwo Geld aufgetrieben, es mir in die Hand gedrückt, damit ich los legen konnte. Jessi, die Freundin meines Großen, hatte mich mitten in der Nacht nach Hannover zum Flughafen gefahren. Ohne dass ich fragen musste, einfach so. Auch sie mochte Micha sehr.
Endlich war ich auf der Insel. Ein Taxifahrer schleppte meine Tasche zum Wagen, sie war schwer. Ich hatte Infusionen eingepackt. Franz hatte sie mir aus der Tierklinik mitgegeben. Dazu noch krampflösende Mittel und Morphium. Der Zoll auf dem Flughafen in Hannover war über die Fracht informiert, das Reisebüro hatte gut vorgearbeitet.
Mein erster Weg führte mich in die Klinik. Ich glaube, es war acht Uhr morgens, als ich dort ankam. Sehr freundliche Schwestern ließen mich sofort zu „meinem“ Patienten. Wie ich Micha dort vorfand, traf mich tief. Noch heute habe ich dieses Bild vor Augen, empfinde immer noch Entsetzen und traurigen Zorn, immer noch. Micha hatte alle Hilfe durch die hübschen, temperamentvollen Schwestern abgelehnt. So hatten sie sich natürlich auch nicht wirklich die Mühe gemacht ihn zu überzeugen, dass er bei einigen Dingen ihre Hilfe benötigte. War vielleicht bequemer, ich weiß es nicht.
Micha war zu schwach zum Sprechen. Doch er lächelte, als er mich sah. Ein todgeweihtes Lächeln. Augen, die sein ganzes Gesicht beherrschten. Müde, voller Schmerz und Angst aber doch irgendwie gefasst und erleichtert. Große Augen in einem Gesicht, das jetzt ohne Muskeln war, ohne jede milden Konturen. Straff gespannte Haut über eckig hervorspringende Knochen und deutlich erkennbare Sehnen. Der Krebs hatte seinen Tribut gefordert von diesem starken Mann, der schon so lange mein Freund war. Er hatte Micha innerhalb kürzester Zeit gefressen, vernichtet.
„Marie ...“ Er flüsterte schwach. „Marie ...“ Ich drehte mich um, verließ das Zimmer, in dem er allein im Halbdunkeln lag und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ein letztes Mal wollte ich um ihn weinen. Jetzt, hier in der Fremde. Und dann sollte die Heimkehr angegriffen werden.
Ich gab den Schwestern die Medikamente, die ich aus Deutschland mitgebracht hatte, sorgte dafür, dass Micha sie über Infusionen bekam, dass er eine intravenöse Ernährung erhielt und schmerzfrei wurde. Dann wusch ich ihn. Es war halt so, acht Tage und Nächte ohne Wasser auf der Haut. Der frische Duft der Seife, die streichenden Berührungen des Waschlappens taten ihm gut. Schrecklich. Die Druckstellen auf dem Rücken waren frisch, die Haut der aufgegangenen Blasen neben seiner Wirbelsäule hing in Fetzen um die Wunden herum, ich sagte es ihm nicht. Wozu auch, es interessierte ihn nicht. Und sicher hatte er sie schon gar nicht mehr wahr genommen.
„Bitte, Marie, bring mich nach Hause. Ich kann nicht mehr. Bitte!“
Ich saß an seinem Bett und hielt seine Hand. Oder er meine. Er ließ mich nicht los, nicht mal später im Schlaf, der ihm gnädig durch die Schmerzmittel geschenkt wurde.
„Micha, natürlich bringe ich dich nach Hause, ich verspreche es. Aber bitte, du musst akzeptieren, dass du es eventuell nicht mehr schaffst. Auch dann werde ich dich nach Hause bringen. Anita, die junge Frau aus der Touristinformation hat schon den Flug zurück für uns gebucht. Montagvormittag geht es los. Du musst nur noch etwas besser im Kreislauf werden. Dann schaffst du es. Frank und Max holen dich mit einem Krankenwagen direkt vom Rollfeld ab, es wird schon irgendwie gehen.“
Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück. Nicht weinen, Marie, nicht weinen. Wenn ich doch nur mehr für ihn tun könnte.
„Lass uns noch einmal über das Danach reden, Micha. Bitte.“ Matt hob er die Hand und winkte ab. „Nein!“
„Doch!“ Wie konnte man nur so stur sein in dieser tragischen Situation. „Du hast immer noch kein Testament, oder?“
Kraftlos schüttelte er den Kopf. „Ist doch egal. Wenn ich gehe, dann wird sich schon alles finden.“
„Bitte, Micha, du kannst es mir diktieren.“ Er lächelte matt. „Du hast doch eine Tochter, nicht wahr?“ Das Bild mit dem niedlichen kleinen Mädchen im Esszimmerschrank fiel mir ein. Stella, damals drei Jahre alt, saß auf seinen Knien.
„Nein!“ Das kam energisch. Voller Ablehnung. „Ich habe keine Kinder. Meine Schwester erbt alles. Du tust gerade so, als solle ich heute Nacht sterben. Nerv nicht!“
Jeden weiteren Versuch, seinen letzten Willen zu erfassen unterließ ich. Er hatte ihn ja ausgesprochen. Das reichte ihm. Er hatte Recht, er lebte ja. Noch.
Gut, nach sechsunddreißig Stunden hatte ich ihn so weit versorgt, dass er vom Kreislauf her stabil war. Ich hatte etwas zum Blutdruck anheben organisiert und starke Schmerzmittel. Ihm vor dem Flug Traubenzucker infundiert, einen englisch sprechenden Taxifahrer organisiert, der mir auch auf dem Flughafen half. In meinen Händen hielt ich das nötige Fit for fly, ohne diese Bescheinigung wäre der Flug nach Hause nicht möglich gewesen. Keine Fluggesellschaft der Welt hätte ihn ohne dieses Zertifikat mitgenommen. Hilflos, krank und dem Tode geweiht – es war nicht zu übersehen. Fit for fly – ich hatte irgendwie einen Weg gefunden, an dieses wichtige Papier und die nötigen Medikamente für den Flug zu kommen
Touristenbomber zweite Reihe. Micha kämpfte. Seine langen Beine über die fünf Stunden Flug an den Bauch gezogen, dämmerte er unter den starken Schmerzmitteln dem Hamburger Flughafen entgegen. Ich bat die Passagiere aus der ersten Reihe, mit uns ihre Plätze zu tauschen. „Nix da, wir haben schon vor vier Wochen das hier gebucht. Nein, ist uns viel zu eng da hinten.“
Zornige Tränen schossen in meine Augen, hilflos sah ich die Stewardess an. Sie zuckte nur mit den Schultern. „Ich kann nichts machen.“, sagte sie voller Mitgefühl und drehte sich um.
Hin und wieder erwachte Micha aus seiner Dämmerung. Trank einen Schluck Wasser und murmelte: „Sag Janni, dass ich sie liebte.“ Oder: „Wie lange noch?“ Dabei nestelte er an seiner Uhr, gab jedoch immer wieder auf, er war einfach zu schwach. Oder er sah aus dem Fenster. In den strahlend blauen Himmel über den Wolken.
‚So nah bist du dem Himmel schon.´, dachte ich sehr traurig, sah dabei sein müdes, angestrengtes Gesicht. Sah, wie seine Augen versuchten, die blaue Farbe und das Licht aufzusaugen. Ich hatte den Eindruck, dass er den Himmel mitnehmen wolle, dieses blaue, freundliche Bild auf seine nächste, letzte Reise.
Der freundliche Herr neben uns war Gott sei Dank Arzt, so konnte ich ohne große Erklärungen hin und wieder Schmerzmittel nachspritzen, ohne dass jemandem beim Anblick einer Spritze übel wurde. „Schmerzmittel? Seien sie mal nicht zu geizig damit!“ Er zeigte ganz deutlich sein Mitgefühl.
Frank und Max erwarteten uns mit dem Krankenwagen wie verabredet direkt auf dem Rollfeld am Flugzeug. Endlich konnte Micha wieder liegen. Dankbar und völlig erschöpft versuchte er, meine beiden Jungs anzulächeln. Max hatte den Krankentransport auf mein SOS hin organisiert. Es war nicht selbstverständlich, dass er sich so einsetzte, auch wenn er inzwischen von Beruf Rettungssanitäter war. Aber auch er kannte Micha schon so viele Jahre und litt mit ihm.
„Warum tust du das alles für mich?“
„Wie bitte?“ Ich sah erstaunt auf Micha. Er sah hier im Krankenwagen, liegend und wieder voller Hoffnung, wesentlich besser aus. Sprach auf einmal laut und deutlich, sogar die Fahrgeräusche übertönend.
„Ich weiß, was du für mich riskiert hast, Marie. Danke!“
„Ich hatte es dir versprochen, Micha, Lieber, erinnere dich. Du weißt, dass ich mein Wort halte.“
„Du bist nicht mehr mein Freund, Marie.“ Ich sah ihn erstaunt an. „Du bist jetzt meine Schwester!“ Rau und leise kam es ihm über die Lippen. Er war sehr erschöpft.
„B199.“ Nun lächelte ich. B199 war seine Katze. Er hatte sie nach der Stelle benannt, an der er sie als winzig kleines Kätzchen gefunden hatte. Damals, als er noch arbeiten konnte. „Frag Gaby, ja?“
„Gut, das mach ich. Aber erst mal wollen wir dich in der Klinik abliefern, nicht wahr? Dann kannst du ihr selbst sagen, dass sie B199 ...“
„Nein, ich will dort niemanden sehen, niemanden, versprichst du es mir?“ Er wollte nicht einmal mehr Gaby sehen. Nein. Er war dankbar, dass sie sich in den letzten Monaten um sein Haus, die Katze und auf ihre liebevolle Art so rührend um ihn gekümmert hatte.
Ich nickte. Schon wieder forderte er ein Versprechen von mir. Es sollte sehr schmerzlich für seine Freunde sein. Trotzdem versuchte ich am nächsten Tag noch einmal, eine Verbindung zu seiner Schwester herzustellen. „Bitte Nein!“ Er drehte sein Gesicht dem Schrank zu. Seine Hände lagen zu Fäusten geballt neben ihm. Er kämpfte. „Ich will keine Weibertränen auf meinem Laken.“, murmelte er und wandte sich mir wieder zu.
Micha blickte aufs Telefon. Flüsterte: „Ruf ihn an. Heilpraktiker. Bitte.“
Natürlich erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Der Homöopath versuchte zu helfen, obwohl es keine Hoffnung mehr gab. Nur Linderung. Nur noch das.
„Marie ...“, ein ängstliches Flüstern, „Die Ärzte ... Warum bekomme ich kein Antibiotikum?“
Gott, warum musste ich es tun? Warum fragte er mich? Warum musste ich ihm jetzt die Antwort geben? Warum? Mein Kopf weinte, innerlich. Irgendwie. Meine Augen sahen Micha an – ohne Tränen.
„Sie können nicht mehr helfen, Micha. Du bist Mediziner, du weißt es, nicht wahr? Die Entzündungen in deinem Bauch, deine Organe können nicht mehr.“
„Also werde ich jetzt sterben?“ Er griff nach meiner Hand, langsam, hielt sie fest mit der Kraft, die einem Sterbenden blieb. „Sag schon, bitte.“ Auf eine merkwürdige Weise schaute er mich jetzt wissenschaftlich interessiert an. Nicht hoffnungslos. Nicht verzweifelt. Müde, matt, ohne Kraft, aber nicht erschüttert. Eher neugierig. Ich kannte diesen Blick. Wie oft hatte ich ihn gesehen, wenn er einem Pferd half, eine Krise zu überwinden. Wenn er entscheiden musste: Aufgeben oder kämpfen. Versuchen.
„Du wirst keine Schmerzen haben, Lieber.“ Er nickte. Sanft, entspannt. Micha akzeptierte.
„Bitte, Micha. Deine Freunde. Gib ihnen die Chance, sich zu verabschieden.“
„Nein, will keine Tränen. Du wirst schreiben. Sie werden verstehen.“ – Nur noch ein Murmeln.
„Bitte, wenigstens Diedrich, er ist dein bester Freund. Bitte. Wenigstens er.“
Micha wusste, wie ungern ich auf Diedrich traf. Er war nicht gerade mein Freund, aber im Angesicht des Todes legte ich den Missmut gegen ihn beiseite. Alles wurde klein, unwichtig, nichtssagend. Micha musste gehen. Alles andere war egal. Ein leichtes Nicken. Gut.
Diedrich kam an das Sterbebett seines Freundes. Vor der Tür hatte ich ihn instruiert. Keine Tränen. Lächeln, und trotzdem Ehrlichkeit. Er wusste, dass es das letzte Mal sein würde, die letzte Gelegenheit. Still setzte er sich zu Micha, lächelte ihn mit beschlagenen Brillengläsern an. „Die Fasanen!“ Micha hatte sie vor seinem Flug Diedrich anvertraut. „Bitte. Du, deine ...“ Dietrich nickte. Saß wortlos an der Seite seines Freundes, traurig und doch sehr beherrscht. Lächelnd in der Gegenwart des Todes.
Das also wollte Micha seinem Freund noch sagen. Die Tiere eben. So war er – bis zum Schluss. Er sah Diedrich an. Nickte kaum merklich. „Ciao.“, flüsterte er fast lautlos.
Diedrich ging. Kurz darauf trat Frank ins Zimmer. „Bye, mein Großer, gute Reise.“ Mein Sohn strich dabei über Michas Fuß, „Wir sind alle bei dir. Du bist nicht allein.“ Auch er ging. Ein letztes Mal schaute Micha zur Tür und lächelte. Ein letztes Mal.
„Deine Jungs ...“ Das Sprechen kostete ihn sehr viel Kraft. „Tom, Eisenbahn ..“ Micha halluzinierte. Damals, vor so vielen Jahren hatte Micha stundenlang mit dem Kleinen auf dem Bauch liegend die Züge über die Gleise sausen lassen. Nun, in dieser Minute, machte Micha sich auf den Weg, in diesem Moment trat er seine Reise an, begann, wie er es genannt hatte, über die Straße zu gehen. Ließ sich fallen in tröstende Träume. So wirkte es.
Auf seiner Stirn bildeten sich senkrechte Falten. Er hatte Schmerzen. Ich lief ins Stationszimmer um das Morphium zu holen, das ihn von jetzt an gnädige Erleichterung bringen sollte. Fünf Milligramm bei Leidensdruck hatten die Ärzte angeordnet. Die sollte er haben, sofort. Es war die Zeit. „Micha ...“
„Du machst das schon.“, flüsterte er. Seine letzten Worte. Du machst das schon. Was meinte er damit? Ich dachte nicht darüber nach. Nein. Es tat so weh.
Am nächsten Tag sprach er nicht mehr. Ich blieb über Nacht in der Klinik. Mitunter schien Micha zu erwachen. Murmelte, halluzinierte. Lächelte, weinte, es schien, als sähe er einen Film, dem er mit Gefühl folgte. War es das berühmte Vorbeiziehen des gelebten Lebens? Nachmittags öffnete er seine Fäuste. Er war bereit, wollte gehen, sein Kampf war gekämpft, er stand schon mitten auf der Straße, würdig ging er Schritt für Schritt. Alle Falten in seinem Gesicht glätteten sich. Ich lauschte seinem Atem, unregelmäßig und schwach waren die Geräusche. Hielt seine Hand, flüsterte ihm die guten Wünsche seiner Freunde zu, die sich nicht selbst verabschieden durften. Gab ihm einen Gruß mit für Nils, der schon auf der anderen Seite war. Auf dem Schränkchen neben seinem Bett lagen zwei Briefe. Ich las sie ihm vor. Wünsche von Frauke und von Jutta, so konnten die Zwei sich von ihm verabschieden.
Sechsunddreißig Stunden saß ich neben ihm. Sah aus dem Fenster wie damals, als ich meinen ersten Sterbenden begleitete. Versuchte, ihm Ruhe und Kraft zu geben, ihn nicht allein sein zu lassen. So lange Zeit.
Micha starb mit offenen Augen. Er hatte zuletzt stolz und ohne Angst dem Tod entgegen gesehen, voller Würde. Am späten Vormittag schloss ich ihm seine gebrochenen Augen. „Bitte Gott, vergib ihm seine Sünden und lass ihn seinen Frieden finden.“, sagte ich laut und deutlich und fügte hinzu: „Der Herr ist dein Hirte ...“
Ich öffnete das Fenster im Krankenzimmer weit. Seine Seele sollte fliegen. In die Freiheit hinaus, ins helle Licht.„Finde deinen Frieden, mein Freund, ich wünsche es
dir so sehr.“ Wie automatisch griff ich zum Telefon um Michas Schwester zu
informieren. Erst dann ging ich ins Stationszimmer und bat um den Arzt.

Kindertraum

Ich brauchte lange Zeit, um dieses Erlebnis zu verarbeiten. Lenkte meinen Kopf ab in dem ich versuchte, immer weiter in die Vergangenheit zu tauchen.
Bildete ich es mir ein, oder konnte ich mich wirklich so weit zurück erinnern? Oder lag es an den vielen Erzählungen, die meine genervte Familie heute noch dauernd zum Besten gibt?
Wie auch immer, ganz sicher ist mir Lalü in meinen Gedanken geblieben.
Lalü war eine Leid geprüfte Landschildkröte, der ich, als ich fünf Jahre alt war, mit Lackfarbe ein rotes Kreuz auf den Rücken gepinselt hatte, damit sie als mein Krankenwagen fungieren konnte. Deshalb nannte ich sie sicherheitshalber: Lalü! Nach dem Geräusch, das ein Rettungswagen von sich gab. So konnte auch der letzte Ignorant erkennen, dass sie ein lebenswichtiges Fahrzeug war.
Im ständigen Einsatz zur Rettung von verletzten Schmetterlingen, Raupen, Käfern und was mir als Kind noch so in die Quere kam, schob ich sie brummend und so schnell ich konnte durch mein Kinderzimmer. „Lalülala“, tönte es durch die alte, hölzerne Tür, die meine Mutter lieber immer fest geschlossen hielt, damit die ‚geretteten´ Kreaturen sich nicht auf ihrer Flucht vor mir in der spiegelblanken, gemütlichen Küche in Sicherheit bringen konnten.
Trotzdem passierte es nicht nur einmal, dass zum Beispiel ein dreibeiniges Heimchen während einer kopflosen Flucht vor mir im Suppenteller meines Bruders landete. Oder dass mein verloren gegangener Frosch seinen Verband zwischen den liebevoll geschmierten Frühstücksbroten abstreifte und sich dann aus dem Staub machte.
Im Kindergarten durfte ich meine Frühstückstasche nur unter der Aufsicht einer ‚Tante´ im Freien öffnen, nachdem aus Versehen in dem bunten Frühstücksraum des Hortes einer Eidechse, deren abgelösten Schwanz ich mit Hilfe eines Heftpflasters fixiert hatte, die Flucht in die Freiheit gelungen war. Da ich der Meinung war, dass das „Minikrokodil“, wie ich es nannte, intensive Pflege brauchte, musste es halt mit in den Hort, ich dachte mir, dass es unbedingt das Beste sei.
Merkwürdiger Weise spielte ich nie mit Puppen, meine Eltern machten sich große Sorgen deshalb. Immer wieder versuchten sie, mir welche unterzujubeln – jeder klägliche Versuch war erfolglos.
Nicht einmal ein zu Weihnachten geschenktes Puppenhaus konnte mich überzeugen! Puppen atmeten nicht, sie klagten nicht, also waren sie tot, das war überhaupt nichts für mich. So ließ ich sämtliche Möbel und Püppchen in Windeseile verschwinden, stopfte die Puppenstube mit Holzwolle aus, dazu noch ein frisches Salatblatt: Ein prima Nest für Lalü. Sie sollte es ja gut haben, nicht wahr?
Präpubertär entwickelte ich mich zum Schrecken der gesamten Nachbarschaft. Auch mein Bruder war schon genervt und sehr vorsichtig wenn er, aus welchem Grund auch immer, mein Zimmer betreten musste. Wenn ich mich recht erinnere, verschränkten eigentlich alle schon rein prophylaktisch ihre Arme auf dem Rücken, damit ich nicht zum hundertsten Mal den Puls fühlen konnte. Meine Mutter hatte aus wohl verständlichen Gründen das Fieberthermometer verschwinden lassen, damit ich kein Kaffeekränzchen mit Fiebermessen stören konnte, obwohl es mir nie gelungen war, eine ihrer Freundinnen dazu zu überreden.
Nachdem ich unserer Nachbarin mitgeteilt hatte, dass sie die „Dickkrankheit“ und die „Runzelitis“ hätte, sprach sie ein halbes Jahr lang kein Wort mehr mit mir. Dabei entsprang die Diagnostik doch nur meiner tiefen Besorgtheit.
Eine andere Nachbarin, immer wieder ein gern genommenes Opfer meiner kindlichen Bemühungen – die Ketten ihres Geistes waren schon ziemlich verwirrt – tyrannisierte telefonisch so lange ihren Hausarzt mit meinen Diagnosen, bis auch unser guter Doktor die Nerven verlor und mir heftigst und sehr übersichtlich die Leviten lass:
„Kind, wie kannst du der alten Dame erzählen, dass sie keinen Puls hat. Du weißt doch, dass die alte Minna sehr ängstlich ist! Deine Mutter sollte dir zehn Jahre Stubenarrest verpassen, vielleicht bist du dann für die restliche Menschheit erträglich!“ Dr. Kuhn war ernsthaft böse, heute kann ich es verstehen. Aber damals? Ich war inzwischen zehn Jahre alt, und ich hatte wirklich keinen Puls ertasten können.
Nur die Wagenpferde aus der Nachbarschaft ließen mich meine kindlichen Exkursionen in die so interessante, aufregende Medizin unterbrechen. Es machte einfach Spaß, bis über die Knöchel im Mist zu stehen, sich auf den breiten Rücken der Kaltblüter tragen zu lassen und den warmen, so speziellen Geruch der Pferde einzuatmen.
Mit vierzehn Jahren war ich alt genug, um im Krankenhaus zu helfen. Mag sein, dass meine Mutter versuchte, mir einen Realitätsschock zu verpassen. Erreicht hatte sie damit jedoch nur das Gegenteil: Mein Interesse an der Krankenpflege und -versorgung stieg! Ich verbrachte sehr viele Wochenenden auf einer inneren Frauenstation, las den alten Damen aus der Zeitung vor, half beim Betten machen, trug Becken durch die Gegend, verteilte Essen und fütterte hier und dort Patientinnen. Meine Pfleglinge schätzten, glaube ich ganz sicher, meinen Unterhaltungswert und aßen, abgelenkt durch mein Geplapper, ihre Teller leer. Mir schien, sie freuten sich über die Erlebnisse mit meinen Tieren, die ich zum Besten gab.
Und jetzt war es so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich wollte wirklich Schwester werden! Schwester Marie! Schon klar, ich war auf dem besten Weg dahin.
Waren meine Eltern durch meine Kindheit traumatisiert? Keine Ahnung, sie steckten mich nach der Schule in eine Bürolehre.
„Das ist nur gut für dich, mein Kind, da lernst du was fürs Leben. Du wirst später sowieso mal heiraten und Kinder kriegen.“ Ich höre meinen Vater diesen Satz heute noch sagen. Ich habe ihn gehasst. Diesen Satz und meinen Vater, der mein Leben, das vor mir lag, bestimmen wollte. In eine Richtung, die bequem für ihn war und grausam für mich. Zumal mein Vater damals schon gar nicht mehr bei uns lebte und seine Bemühungen um uns Kinder sich eigentlich nur noch um das Genörgel über die Unterhaltszahlungen erstreckte. Doch zu der Zeit war es so: Man wurde in die Lehre gesteckt und Basta!
Gott sei Dank konnte ich über Bock und Genörgel meinem Unmut soviel Ausdruck verleihen, dass meine Mutter schon recht bald ihre Zustimmung zur Krankenschwesternausbildung gab.
Mein Vater, den wir auf Grund seiner – nennen wir es mal Abwesenheit – gar nicht mehr nach seiner Meinung fragten, murrte. „Wenn du das man schaffst, aber bitte ...!“

Die Schwesternvorschule

In unserem alten, klapprigen VW fuhren meine Mutter und ich nach Flensburg zu einem Vorstellungsgespräch.
„So, die junge Dame möchte also in die Krankenpflege. Gibt es dafür einen besonderen Grund?“ Streng und sehr autoritär blickte die Frau Oberin vom Roten Kreuz mich über ihre Brillenränder hinweg an. Nichts war mehr zu erkennen von ihrem strahlenden, sehr freundlichen Gesichtsausdruck, mit dem sie uns begrüßt hatte. Fast schienen mir ihre Augen bedrohlich zu gucken. Doch ich ließ mich nicht einschüchtern.
„Es ist ein sehr interessanter und sinnvoller Beruf.“ Der Nerv tötende Satz meines Vaters schoss mir durch den Kopf. „Außerdem ist es doch gut, wenn man in der Krankenpflege bescheid weiß, ich denke, während so einer Ausbildung lernt man auch eine Menge fürs Leben.“
Ich holte tief Luft um fortzufahren, doch meine Mutter unterbrach mich.
„Marie möchte schon Schwester werden, seit sie den Kindergarten besuchte. Ihr Zimmer sah mitunter aus wie ein Tierlazarett, ständig betüdelte sie Käfer, Vögel und Mäuse. Und das meist mit erstaunlichem Erfolg.“
„Und warum wollen Sie dann nicht Tierärztin werden? Da könnten Sie doch auch viel Gutes tun, Marie?!“ Die Oberin schmunzelte.
„Nein, ich möchte Menschen pflegen. Um die Tiere kümmere ich mich in meiner Freizeit. Bitte, Frau Oberin, lassen Sie es mich wenigstens versuchen.“ Ich bat sie wirklich inständig und hatte Erfolg.
Schon am Ersten des nächsten Monats durfte ich die Schwesternvorschule besuchen, es war ein wirklich glücklicher, aufregender Augenblick, in dem ich meine Zukunft betrat. Ich wollte mich sehr anstrengen und alles so gut machen wie ich nur konnte, damit ich ein Jahr später als Schwesternschülerin in mein Berufsleben starten konnte.
Mein Gott, es war schwerer als ich dachte. Wir Vorschülerinnen waren unter dem Dach eines Feierabendhauses untergebracht. Im Haus selber wohnten die alten Schwestern, die familiär nicht gepflegt werden konnten.
Alles war so anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich musste mich daran gewöhnen, kleinkarierte blaue Kleider mit weißen Schürzen zu tragen. Diese Kleider rochen nach Kernseife und Altenheim. Sie waren rau und kratzten auf der Haut. Doch sie waren zweckmäßig. Ich lernte Flure zu bohnern, in der Großküche bei der alten Küchenschwester Gerda, die ich sehr mochte, für fünfzig Personen Schokoladenpudding zu kochen, bei der Waschküchenschwester das Plätteisen zu schwingen und die Pensionszimmer der alten Schwestern zu putzen. Die Tage fingen sehr früh an, nicht immer gelang es mir, pünktlich zum Frühstück zu erscheinen, woraufhin die Frau Oberin mit gerunzelter Stirn und vorwurfsvollem Blick das Tischgebet sprach: „Alle Augen warten auf dich, oh Herr ...“.
Ich lernte, mir in solchen Momenten ein Grinsen zu verkneifen, denn dann gab es richtig „Mecker“ und wartete teils demütig teils gelassen und mit heftiger Ungeduld auf den so sehnsüchtig erwarteten großen Tag meines Ausbildungsbeginns.
Wenn nicht der theoretische Unterricht in Krankenpflege gewesen wäre, ich glaube, ich hätte damals Schwester Schwester sein lassen und hätte aufgegeben.
Aber der Stoff, in dem man uns unterrichtete war sehr interessant, ich lernte und büffelte, besorgte mir mehr und mehr Lehrbücher, so dass ich dann doch bis zum Ende der Vorschulzeit durchhielt.
Die Abende waren absolut witzig, denn wir waren eine sechsköpfige Mädchenhorde, alle so sechzehn, siebzehn Jahre jung, voll Idealismus und super neugierig auf die Zukunft, sprich: Auf das Krankenhaus!
Da es keinen Ausgang gab, keinen Herrenbesuch, Gott bewahre, nein, freuten wir uns alle wahnsinnig auf die Wochenenden. Jede von uns hatte schon so etwas wie einen `festen´ Freund. Damals schrieb man sich noch Briefe, die von uns im Dachgeschoss des Mutterhauses eingesperrten Teenies sehnsüchtig erwartet wurden. Wir lasen sie uns gegenseitig vor und kicherten über die zaghaften Liebeserklärungen, die der Postbote anschleppte. Ich selber bekam tatsächlich auch Briefe, mal von diesem und mal von jenem Verehrer. Unsere Post wurde, denke ich, kontrolliert, denn unsere Oberin sah mich mitunter verächtlich an und mäkelte: „Sie werden noch in der Gosse landen, Marie!“
Dieser doch etwas gewagte Ausspruch rief natürlich meine Mutter auf den Plan, sie war mehr als allergisch gegen solche Anmerkungen.
Ich erlebte zum ersten Mal, dass auch eine Frau Oberin geballte Ladungen an ziemlich heftiger Kritik wegstecken musste, erstaunlicher Weise blieb sie jedoch ruhig und wurde immer freundlicher, irgendwie schien es ihr leid zu tun, was sie da vom Stapel gelassen hatte. Noch erstaunter war ich damals über meine Mutter. Sprachlos hörte ich mir an, wie sie sich für mich einsetzte, eine Löwin!
Etwas unwohl war mir schon, als die Leiterin der Schwesternschaft sich bei ihr für ihre unüberlegten Worte entschuldigte. War es nun das Aus für meinen so mühselig erkämpften Ausbildungsplatz als Krankenschwester? Die Oberin hatte die Macht und mit den richtigen Begründungen auch immer noch das Recht, mich abzulehnen.
Doch ich zitterte umsonst die ganze Nacht um meine Zukunft: Am nächsten Tag bekamen wir alle einen positiven Bescheid: Wir Vorschülerinnen durften gemeinsam ab Oktober die Krankenpflegeschule besuchen.


Endlich!

Nach dem wir sechs Mädel in dem Schwesternwohnheim unsere Zimmer bezogen hatten, wurden wir feierlich eingekleidet, das hieß: Endlich durften wir zum aller ersten Mal eine Schwesterntracht tragen. Niemals im meinem Leben werde ich den Moment vergessen, in dem die Frau Oberin mir das fein säuberlich mit sieben Falten versehene, weiße Schwesternhäubchen auf den Kopf setzte.
„Ich wünsche Ihnen Weisheit und Geduld, Marie. Und Demut den Kranken gegenüber.“
Es schien fast, als lächelte sie mich mütterlich und ein klein wenig besorgt an, doch nur einen Moment lang, dann blitzten ihre Augen wieder streng auf. Na gut, das kannte ich schon, sie wollte niemandem zu nahe treten, ich sollte die Chance haben, mich selber, so wie ich war, in die Nächstenliebe und die Fürsorge einzubringen.
Stolz trugen wir sechs „Neuen“ unsere grauen Schwesternkleider, die weißen Schürzen und die kleinen runden Broschen mit dem roten Kreuz, die unseren Status als Anfängerin in diesem Beruf bekannt gaben, jeder Insider wusste somit: Kleine Brosche – Anfänger, Neuling, nur nicht überfordern.
Nach dem feierlichen Einkleidungszeremoniell betrachteten wir uns gegenseitig. Schick sahen wir nicht gerade aus. Die Leinenkleider schlabberten uns um die Waden, flatterten um unsere Knöchel, Rosi bekam einen Lachkrampf, als sie in den Spiegel sah: „Oh nein, das sieht ja völlig daneben aus!“
„Grau macht eben alt!“, kicherte Jonna, „Aber unser Styling macht echt schlank, kann man nicht anders sagen.“ Jonna war damals noch in ein klein wenig Babyspeck verpackt, und die Schwesterntracht ließ sogar sie wirklich hauchdünn erscheinen.
Ich stellte mich vor den großen Spiegel, er hing im Flur unserer Wohnung, und sah mich an. Dünn war ich, vor Aufregung ganz blass. Meine langen blonden Haare hatte ich mühselig zu einem dicken Knoten gebunden, so dass meine gesamte Haarpracht ordentlich unter meiner Haube verschwunden war. Ich schloss die Augen und dachte: „Endlich, endlich habe ich mein Ziel erreicht. Auch wenn es nur der Anfang ist.“
Nach dem Mittagessen wurden wir unseren Stationen zugeteilt. Mit klopfendem Herzen ging ich zaghaft auf das Stationszimmer zu, ich war so gespannt auf das, was man mir als erstes auftrug zu tun.
„Hallo, ich bin Marie. Die Oberschwester hat mich für diese Station eingeteilt.“ Ich versuchte, selbstsicher zu klingen, auf keinen Fall ängstlich oder gar schüchtern.
Drei Hände streckten sich mir freundlich entgegen, Hände, die schon lange halfen, schon viel erfahren hatten. „Ah ja, Sie sind also unser Küken. Man hat Sie schon angekündigt, herzlich willkommen. Ich bin Schwester Ursel, das ist Schwester Lisa und das ist die Schülerin Maja. Sie wird Sie einweisen, Schwester Marie. Hängen Sie sich nur an ihren Schürzenzipfel und schauen Sie ihr zu. Nicht wahr, Maja, wir haben alle mal klein angefangen. Und wenn Sie Fragen haben, dann fragen Sie, nur Mut, Sie werden sich schnell einleben.“
Ursel hatte Schwester Marie zu mir gesagt: Schwester Marie. Ich hatte es tatsächlich geschafft, endlich! Und war als erstes auf einer „Inneren Männerstation gelandet.
Maja nahm mich als erstes mit zum Kaffee austeilen. Die meisten Kranken sahen gar nicht so schlimm aus. Sie waren größtenteils in Sechs-Betten-Zimmern untergebracht und unterhielten sich leise miteinander. Ich versuchte, den Kaffee oder den Tee, den Maja aus großen, bauchigen Kannen ausschenkte, ohne zu Kleckern an den Mann zu bringen. Die Schnellste war ich nicht dabei, aber mit ein wenig Übung würde es schon werden. Maja sah mir schmunzelnd zu, sie konnte sich noch sehr gut an ihren ersten Tag erinnern.
„Mach mal hinne!“ forderte sie mich auf. „Es ist gleich Besuchszeit, dann müssen wir fertig sein.“ Also beeilte ich mich mit dem letzten Kaffee, damit ich nicht so ganz hilflos wirkte.
Am Bett angekommen, stieg mir ein merkwürdig stechender Geruch in die Nase. Es roch wie - mmm, eigentlich wie unsere alte Toilette in unserem Haus am Strand. WC´s gab es in unserem Wohnviertel in Eckernförde erst seit wenigen Jahren.
„Maja, kannst du mal bitte kommen, ich glaube, hier stimmt was nicht!“
„Oh je, hat er schon wieder eingestuhlt? Oh man, und wir sind sowieso schon so spät.“, murmelte sie leise vor sich hin. Ich hoffte, dass der Patient es nicht gehört hatte.
Es war tatsächlich so. Ein Blick unter die Bettdecke des alten Mannes gab ihr Recht: Es waren nicht nur Blähungen, die dem Patienten entfleucht waren, nein, er lag in einem riesigen See von braunschwarzem Stuhl, er hatte Hände und Unterarme sowie seinen Bauch damit eingeschmiert. Der Arme sah auf einen Fixpunkt an die Decke, sagte kein Wort.
‚Wie schrecklich.´, dachte ich, ‚Der arme Kerl! Wie lange mag er wohl schon so liegen?´
Maja nahm mich an die Hand. „Komm, du kannst gleich sehen, wo Waschzeug und neue Wäsche ist. Dann können wir den Guten schnell frisch machen.“ Für sie war es ganz normal, dass ab und zu ein Patient nicht oder nicht rechtzeitig klingelte. „Manchmal fehlt einfach die Kraft dazu, und in diesem Fall ist es besonders tragisch, der Schließmuskel des Mannes funktioniert nicht mehr, er hat einen ziemlich fortgeschrittenen Magen- und Darmkrebs. Inoperabel, das heißt, dass man ihm auch mit einer Operation nicht mehr helfen kann. Sicher werden wir ihn noch öfter säubern müssen. Wenn wir ihn gleich waschen, achte mal auf die Farbe des Exkrements, der Stuhl ist fast schwarz. Das heißt, der gute Mann blutet aus seinem Tumor, das ist nicht gut, gar nicht gut.“, erklärte sie mir draußen auf dem Flur.
Flink hatte sie alle Dinge zusammengesammelt die man brauchte, um den Patienten aus seiner misslichen Lage zu befreien. „Hier, trag du mal die Bettwäsche, ich sag dir schon, was du machen musst.“ Sie grinste mich breit an. „Und sollte dir übel werden, dann spuke bitte nicht auf den Patienten, ja? Geh lieber rechtzeitig raus, dann brauchst du nicht noch mehr Schiet entsorgen!“
Tapfer folgte ich ihr. Eine dicke Gänsehaut lief über meinen Rücken, denn in der Zwischenzeit hatte sich die Geruchswolke gleichmäßig im ganzen Krankenzimmer verteilt.
„Na, dann wollen wir mal den Schaden beseitigen, nicht Herr Petersen?“ Sie lächelte den alten Mann an. Hatte Maja keinen Geruchssinn mehr? Oder gewöhnte man sich im Laufe der Zeit an diese ‚Düfte´? Ich selber fühlte, wie sich mein Magen langsam zusammenzog, Luft anhalten half auch nichts. Aber ich durfte schon gar nicht bei meinem ersten Pflegefall abknicken, nein, außerdem wollte ich unbedingt wissen, wie man am schnellsten einen Menschen aus so einer ekligen Situation befreite. Ich dachte daran, dass ich es erst auch widerlich gefunden hatte, Lalüs Häufchen zu beseitigen und ihren Käfig zu ‚misten´. Schnell hatte ich mich daran gewöhnt, das sollte hier wohl auch glücken.
„Lalü lala ...“ „Was???“ Maja blickte mich fragend an.
„Ach nichts, ich versuche nur, eine Brücke zu finden, über die ich gehen kann, damit mir nicht übel wird.“, flüsterte ich ihr zu.
Sie lachte mich an. „Egal, du bist wirklich tapfer. Hier, nimm mal das Handtuch und trockne Herrn Petersen ab. Sieh zu, dass auch alle Falten trocken sind, damit er nicht wund wird. Er hat schon so genug zu leiden.“
Eine Art peinliche Ratlosigkeit befiel mich. Ich hatte bis dahin noch nie einen nackten Mann gesehen, geschweige denn einen angefasst. Doch nun packte ich einfach zu und tat, was getan werden musste, es war nicht wirklich schlimm, eben nur sehr ungewohnt.
Endlich lag Herr Petersen wieder sauber und trocken in seinem Bett. Er griff kraftlos nach meiner Hand und sagte matt: „Danke, Schwester!“
Ich war betroffen. Wie gut, dass er nicht gemerkt hatte, wie übel mir war. Dass ich eigentlich gar nicht an ihn gedacht hatte während der Pflege sondern an Lalü, meine alte Landschildkröte.
Ich sah ihm ins Gesicht und lächelte ihn aufmunternd an. „Schon gut, es ist gern geschehen.“
Herr Petersen versuchte zurückzulächeln, seine in tiefen Höhlen liegenden Augen blitzten kurz auf, für den Bruchteil einer Sekunde, matt versuchte er zu nicken, für mehr war er einfach zu schwach.
Die ersten Besucher strömten auf die Station, einige fragten nach der Zimmernummer, andere wollten einen Arzt sprechen, oder brauchten Blumenvasen.
Ich bewunderte Maja, die völlig Herr, beziehungsweise Frau der Lage war und jedem freundlich und geduldig Auskunft gab. Sie wusste unheimlich gut Bescheid und ließ sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen.
Ich nahm mir vor, alles so schnell wie möglich von ihr zu lernen. Sie war mein erstes großes Vorbild, so wollte ich auch sein: Fröhlich, freundlich, hilfsbereit und geduldig, auch wenn es mal stank.

Petra Teegen | 05.10.10 - 09:28 Uhr | Ich bin Deine Schwester | Kommentare(11870/0)